Extrakt aus einem Vortrag am 25. März 2024 im Kloster Gut Saunstorf

OM, du hast uns gestern Abend eine Einführung gegeben zu Gurdjieffs und OMs Lehre des „Vierten Weges“ und uns in grundlegende Wesenszüge dieser Lehre einblicken lassen. Wie kommt es, dass gerade jetzt die Lehre des Vierten Weges diese Betonung erfährt und worum ging es an dem Abend?

OM: Es war nicht irgendein Vortrag, sondern der initiale Vortrag, der über mehrere Jahre vorbereitet worden ist und sich über mehrere Jahre angekündigt hat. Wie du weißt, ist es ja ein Thema, das ich für die nächsten Jahre in den Vordergrund gestellt habe. Es ist auch die Ankündigung einer neuen Zeit, ein Begriff, der des Öfteren hier vermittelt worden ist, sich aber bisher im Wesentlichen nur auf die Gründung der neuen großen gemeinnützigen Stiftung bezogen hat. Jetzt geht es um die neue Zeit der Inneren Schule und der inneren Schulung.

Da es eine öffentliche Veranstaltung war, wurden Themen des Vierten Weges nur angerissen und nicht in die Tiefe verfolgt. Es war auch keine umfassende Einführung, vielmehr orientierte sie sich an der Herausgabe des Buches „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ von P. D. Ouspensky. Die Aspekte der Lehre, die in diesem Buch vermittelt werden, standen im Vordergrund und im Zentrum der Aufmerksamkeit. „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ ist ein Klassiker, der sehr gehaltvoll ist, und im Grunde von Menschen ohne Vorbereitung gar nicht gelesen werden kann. Gelesen wird ja viel, aber die Frage ist, was wirklich verstanden wird. Auch mir sind einige Aspekte der Lehren des Vierten Weges, wie sie durch Gurdjieff vermittelt wurden, nicht zugänglich. Gut, ich brauche sie auch nicht, weswegen ich ja Schüler beauftragt habe, einen Lehrer aus der Gurdjieffschule¹ nach Saunstorf zu holen, der speziell diese Aspekte, die planetarischen Aspekte oder die Wasserstofftabellen, vermitteln kann. Andere Aspekte der Lehre sind ebenso wenig zugänglich ohne Einbettung in eine praktische Vermittlung.

Um was geht es in dieser Lehre? Kannst du eine wesentliche Kernaussage der Lehre des Vierten Weges beschreiben? Und magst du Gurdjieff durch ein ausgewähltes Zitat dazu sprechen lassen?

OM: Diese Lehre ist eine der großen Wissenswege, die Lehren über den Menschen, über das Menschsein und über die Evolution des Menschseins im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit tragen. Die Lehre des Vierten Weges beantwortet die Frage: Wer oder was ist der Mensch, und wie entwickelt er sich und wie entwickelt er sich nicht? Wenn wir einen Wissensweg gehen wollen, jenseits dessen, was durch die akademischen Wege als Wissen vermittelt wird, dann müssen wir die akademischen Wege meiden. Wissen wird schon lange nicht mehr, jedenfalls in keinster Weise aus der Sicht eines endgültigen Wissens, an den Universitäten vermittelt, weder an den bekannten großen noch an den kleinen unbekannten Universitäten. Wenn wir beobachten, was sich in der heutigen Zeit an den Universitäten abspielt, so ist es nur eine Variante dessen, was sich in der gesamten Öffentlichkeit abspielt und wie in der Öffentlichkeit mit sogenanntem Wissen umgegangen wird. Diese Auseinandersetzungen und diese Diskussionen kranken an ganz entscheidenden Punkten der Unwissenheit. Die entscheidende Frage ist: Was ist der Mensch? Und um diese Frage zu beantworten, braucht es vielfältige Unterscheidungen.

Eine erste wesentliche und große Unterscheidung, die bereits so schwerwiegend ist, dass die gesamte Diskussion darüber, was ein Mensch ist, daran scheitern kann, ist die Unterscheidung zwischen einem Menschen und einem Unmenschen. Es ist keineswegs so, wie der einfache Mensch glaubt, dass ein Unmensch einfach nur ein böser Mensch oder ein moralisch verwerflicher Mensch ist, vielmehr ist ein Unmensch ein System im Menschen, das Gurdjieff als die Maschine bezeichnet. Natürlich wäre es schön und heilsam, die einfache Behauptung aufzustellen, ein Mensch sei ein Mensch. Ich aber kenne kaum Menschen, ich meine Menschen, die vollständig Mensch geworden sind, die vollkommen befreit sind von dem System, das Gurdjieff die Maschine nennt.
Ich habe im Vortrag Zitate über die Maschine verwendet, die im Grunde nichts anderes beschreiben, als dass die Quelle und der Antrieb des Handelns, Denkens und Fühlens eines gewöhnlichen Menschen keineswegs menschlich ist oder aus dem Menschsein entspringt, sondern dass es sich um Automatismen der Maschine handelt.

Dazu folgendes kurze Zitat aus „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ über die Maschine: „Was erwarten Sie, fragte Gurdjieff, Menschen sind Maschinen. Maschinen sind blind und unbewusst, sie können nicht anders sein. Alle Handlungen müssen ihrer Natur entsprechen. Alles geschieht, aber niemand tut etwas. Fortschritt und Zivilisation in der wirklichen Bedeutung dieser Worte können einzig das Ergebnis bewusster Anstrengungen sein, sie können nicht das Resultat unbewusster und mechanischer Handlungen sein. Und was für bewusste Anstrengungen kann es in Maschinen geben? Wenn eine Maschine unbewusst ist, dann sind auch hundert Maschinen unbewusst und ebenso tausend, einhunderttausend oder eine Million. Und die unbewusste Geschäftigkeit von einer Million Maschinen muss notwendig in Zerstörung und Ausrottung enden. In unbewussten, unwillkürlichen Handlungen liegt die Wurzel allen Übels. Sie können sich jetzt noch nicht alle Folgen dieses Übels vorstellen oder verstehen, aber die Zeit wird kommen, wo Sie verstehen werden. Damit endete, soweit ich mich erinnere, dieses Gespräch.“

Danke, OM. Folgender Auszug aus einem langen, von dir kommentierten Zitat, rundet den Einblick in den Vortrag ab und hinterlässt das Interesse, tiefer in die Lehre des Vierten Weges einzudringen.

OM: Ich sprach davon, dass ein Mensch aus zwei Systemen besteht und dass das ganze Dilemma des Menschen im Grunde darin besteht, dass er dieses System nicht oder ungenügend unterscheiden kann. Das eine System ist „der Mensch“, das andere „die Maschine“ oder auch „der Unmensch“. Im nächsten Zitat geht es um nähere Ausführungen darüber, wie die Lehre des Vierten Weges diese zwei Systeme beschreibt.

Gurdjieff benutzt zwei Begriffe, von denen meine Sprache, oder die Begriffe, die ich verwende, etwas abweicht, was dann verwirrend sein kann, wenn man nicht tiefer eingeführt ist in die Art und Weise, wie diese Begriffe verwendet werden. Gurdjieff benutzt auch die Maschine im Grunde als ein Synonym für den Begriff der Persönlichkeit des Menschen, während er für das Tiefensystem des Menschen den Begriff des Wesenskerns, oder einfach nur des Kernes, verwendet. Ich verwende den Begriff der Persönlichkeit etwas anders, aber es ist zu weit führend und auch nicht wesentlich diese Unterschiede genau zu verstehen. Wichtig ist, dass wir wissen, was gemeint ist, und wenn Gurdjieff von der Persönlichkeit spricht, dann stellt er sie dem Wesenskern des Menschen gegenüber. Diese beiden Systeme, so heißt es, müssen dringend näher in Augenschein genommen werden, damit sie überhaupt unterschieden werden können.

Zunächst weist das folgende Zitat auf den Unterschied hin, den Gurdjieff macht zwischen Schicksal und Zufall. Es ist wesentlich, seine Aussage zu verstehen, dass im Grunde die Menschen, die in der Persönlichkeit leben, von ihrem Schicksal getrennt sind.

„Ich habe schon einmal von Schicksal und Zufall im Leben des Menschen kurz gesprochen. Wir wollen nun die Bedeutung dieser Worte im Einzelnen prüfen. Schicksal gibt es, aber nicht für jedermann. Die meisten Menschen sind von ihrem Schicksal getrennt und leben nur unter dem Gesetz des Zufalls. Schicksal ist das Ergebnis planetarischer Einflüsse, die dem Typus eines Menschen entsprechen. Wir werden später über Typen reden, inzwischen müssen Sie eines begreifen: Der Mensch kann das Schicksal haben, das seinem Typus entspricht, aber praktisch hat er es nie. Das kommt daher, dass das Schicksal nur zu einem Teil des Menschen in Beziehung steht, nämlich zu seinem Wesenskern.“
Die Erläuterung zu diesen Begriffen kann in diesem Format nur oberflächlich verbleiben. Selbstverständlich ist das, was er hier unter Schicksal versteht, keinesfalls dasselbe, was die östliche Lehre unter Karma versteht. Im Gegenteil, hier wird der Begriff Schicksal eigentlich als Synonym für die Entfaltung der wahren Bestimmung eines Menschen verwendet, während der Begriff des Karmas etwas gänzlich anderes beschreibt und mit der Persönlichkeit zu tun hat. Das wird leider häufig auch durcheinandergebracht.

„Man muss verstehen, dass der Mensch aus zwei Teilen besteht, Kern und Persönlichkeit. Der Kern im Menschen ist sein Eigenes, die Persönlichkeit im Menschen ist das, was nicht sein Eigenes ist“.
Das sind alles Aussagen, die kennen Schüler auch aus meinen Büchern, zum Beispiel aus „Intelligenz des Erwachens“, in sehr ähnlicher Form. Ich finde es aber sehr klar und auch einfach, mit dieser Definition zu beginnen. Der Wesenskern beschreibt das, was dem Wesen eines Menschen zu eigen ist, während die Persönlichkeit das beschreibt, was dieses überlagert, weil er sie angenommen hat. Jeder gewöhnliche Mensch ist nichts anderes als das Produkt der Geschichte seines Geistes. Eine Aussage, die ihr immer wieder hört. Das ist die Persönlichkeit.

„Nicht sein Eigenes bedeutet das, was von außen gekommen ist, was er gelernt hat, was er widerspiegelt. Alle Spuren, die äußere Eindrücke in seinem Gedächtnis und in seinen Empfindungen hinterlassen haben, alle Worte und Bewegungen, die er gelernt hat, alle Gefühle, die er durch Nachahmungen geschaffen hat, alles, was nicht sein Eigenes ist, all dies ist seine Persönlichkeit.“
Vom Gesichtspunkt der gewöhnlichen Psychologie aus ist diese Einteilung des Menschen kaum verständlich, genaugenommen gibt es eine solche Einteilung in der gewöhnlichen Psychologie überhaupt nicht. Diese Aussage, hundert Jahre alt, würde ich zu einhundert Prozent genauso auch einhundert Jahre später bestätigen. Genau diese Aussage könnte mit dem heutigen Datum getroffen werden.

Dieser Artikel wurde zusammengestellt von Katrin Fuchs


Anmerkungen:

¹ Bei der Veranstaltung „Auf der Suche nach dem Wunderbaren – Einführung in Gurdjieffs Lehre“, vom 14.-16. Juni 2024, wird der Engländer Robin Bloor Hauptredner sein. Er ist Gründer und Leiter der Gurdjieff Foundation in Austin, Texas. Als Schüler in zweiter Generation steht er in direkter Linie zu Gurdjieff. Höhepunkt dieses Wochenendes ist ein Gespräch zwischen OM C. Parkin und Robin Bloor.

Der komplette Vortrag „Gespräche mit OM zum Vierten Weg“ kann als Audiodatei erworben werden im Online-Shop von advaitaMedia >