Teil 1   Holy India – Im Land der Rishis¹

An einem frühen Morgen kurz nach Sonnenaufgang machten wir uns bereit zur Besteigung des heiligen Bergs Arunachala, den Ramana Maharshi als Erscheinungsform Shivas verehrte. Ausgangspunkt unseres Fußmarsches ist der Ramanashram in Tiruvannamalai, Südindien, der lebenslangen Wirkungsstätte dieses großen Advaita-Lehrers und Heiligen. Wir hatten das Terrain des Ashrams kaum verlassen, als sich ein Junge von knapp 14 Jahren zu uns gesellte und sich als Führer anbot. Da wir meinten, den Weg zu kennen, lehnten wir das Angebot dankend ab, doch der Junge ließ sich nicht abschütteln, kenne er doch den schönsten geheimen Aufstieg und verstehe sich darin, uns vor Bissen gefährlicher Giftschlangen zu bewahren. Wir ließen ihn gewähren. Er lief immer wieder ein Stück voraus, kam zurück und zog und schob die eine oder den anderen über schwierigere Geröllpassagen.

Kurz vor der Gipfelkuppe bedeutete er uns, ihm einen kurzen Pfad links seitwärts zu folgen. Er wolle uns zu einem heiligen Mann, einem Eremiten, führen, der seit weit über hundert Jahren in einer winzigen ‚Schutzhütte‘, einem schlichten Verschlag, haust. Der würde uns auf die Wirkung der Gipfelfläche vorbereiten und uns segnen. Und da saß er, uralt, zerzaust, mager und unbewegt, wie eine Statue. Nach einer Weile in andächtiger Geduld regte sich der heilige Mann, blickte auf, sah mich lange an: Prüft er mich? Gleichzeitig zwei Impulse nahm ich wahr, eine aufgeregte Rückzugsneigung und eine ergebene Hinneigung in glasklarer Stille. Der folgte ich, ohne mich äußerlich zu bewegen. Er winkte mich heran.

Wir schwiegen. Lange. Und plötzlich (woher?) tauchte eine Frage in mir auf und seltsamerweise war in genau dem Moment der Junge wieder da. Ich folgte einer Geste des heiligen Mannes, die ich als Einladung zu sprechen verstand, und fragte, ob er heilige Schriften studiere. Der Junge übersetzte. Der Alte schaute mir in die Augen, erstaunt, fast ein wenig belustigt, und antwortete ruhig und klar: „Wozu? Schriften sind tot, verbrenne alle Bücher und schütte die Asche in den Ganges. Wahres Wissen kommt aus der lebendigen Quelle in diesem Moment – sei still und lausche in dich hinein, ohne den Versuch, etwas festzuhalten. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Erst jetzt wurde ich gewahr, dass der weise Alte englisch sprach, das charakteristische indische Englisch. Er winkte mich heran, segnete mich durch einen kräftigen Druck gegen die Stirn oberhalb der Nasenwurzel und sagte: „Und jetzt geht zum Gipfel des Arunachala, setzt euch hin, seid still und öffnet eure Herzen. Es wird ein Wunder geschehen.“ Sitzen in Stille. Nichts geschieht. Und jetzt, wahrlich und wahrhaftig: Tief in mir erschien der tanzende Shiva. Bleib still! Namasté. Namasté.

Als wir uns, leicht benommen und mit etwas wackeligen Beinen, für den Rückweg rüsteten, erschien der Junge wieder. Er hielt die Hand auf. 50 Rupien an ihn für Süßigkeiten, sagte er, 500 Rupien für Essen an den Heiligen. Er lieferte das Geld ab und kaum eine Minute später sausten zwei Jünglinge in Flipflops über Geröllwege zu Tal, um einzukaufen. Als wir fast wieder im Ashram angekommen waren, sahen wir die beiden wieder bergauf sprinten, fröhlich winkend, den Einkauf in Kartons auf den Köpfen balancierend.

Teil 2   Heilige Schriften – Ein Urbedürfnis der Menschheit

Eine Ode an das Buch

Menschen haben wohl von jeher das Bedürfnis, ihnen besonders wichtig erscheinende Erkenntnisse festzuhalten, vor allem, um sie weiterzugeben. Sie formten Phoneme, auf deren Bedeutung sie sich innerhalb einer Gruppe einigten – Worte. Worte verbanden sie zu Sprache und konnten so etwas an solche weitergeben, die es nicht unmittelbar miterlebt hatten. Weitertragen, tradieren war mithilfe des Gedächtnisses auch über die Gegenwart hinaus möglich, Wissen konnte vererbt werden, die Tradition war geboren.

Doch die möglichst wortgetreue mündliche Weitergabe genügte dem Menschen nicht, sie erwies sich als zu volatil. Um dem abzuhelfen, erfand er die „Schrift“, erst noch nach der Natur auf den Boden gezeichnet oder auf Felsen gemalt, geritzt, geschnitzt, in Ton geformt, als Metallguss usw. An die Stelle naturalistischer Darstellungen traten Symbole, immer weiter abstrahiert zu Wort-, Silben- und Lautzeichen, woraus in weiterer Abstraktion „Buchstaben“ wurden, jedenfalls in vielen hochentwickelten Sprachen.

Stäbchen wurden gelegt, Keilschrifttontafeln gebrannt, Buchstaben/Runen in Stein gemeißelt, mit Tinte auf Tierhäute geschrieben, Papier wurde erfunden, zu Schriftrollen zusammengefügt, die Buchform entstand, nur um einige Entwicklungsschritte zu nennen. Die Schriften wurden gesammelt, Bibliotheken entstanden, magaziniertes Wissen für die Ewigkeit. Das auf diese Weise (ein sehr teures Verfahren!) festgehaltene Wissen war es nach zeitgenössischer Auffassung wert, es war zum allergrößten Teil höchste Weisheit, Heiliges Wissen und wurde an heiligen Stätten wie Tempeln oder Klöstern aufbewahrt und genutzt. Diese Texte waren nur besonders autorisierten, geweihten Menschen zugänglich und damit quasi Geheimwissen.

Man muss sich vor Augen halten, dass nur sehr wenige Menschen in die Kunst des Lesens und Schreibens eingeweiht waren. Nicht nur in unserer Kultur teilten sich zwei Gruppen dieses (Macht-)Privileg, die Spitzen der weltlichen Machthaber und durchgängig der Klerus, wobei sich besonders die weltlichen Machthaber, die diese Künste nicht immer selbst beherrschten, Gelehrter bedienten, die in ihrem Auftrag und unter ihrer Aufsicht tätig wurden. Im zwölften Jahrhundert (und noch über weitere Jahrhunderte) war es eine absolute Ausnahmeerscheinung, dass ein Adliger, der nicht den höchsten Herrscherrängen angehörte, der Lese- und Schreibkunst mächtig war. Hören wir: „Ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er dar an geschriben vant: der was Hartman genant, dienstman was er zOuwe.“2

Zwar gab es Klosterschulen (vor allem zur Heranbildung des eigenen Nachwuchses), vereinzelte bürgerliche Lateinschulen und Privatunterricht für Adlige und begüterte Bürgerliche und ab Mitte des 14. Jh. die ersten Universitäten in unserem Kulturraum, doch blieb die Zahl der „Gebildeten“, also des Lesens und Schreibens Kundigen sehr klein, bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Drei Ereignisse änderten die Lage fundamental: die Erfindung der Buchdruckerkunst (Johann Gutenberg, ab 1450)3, die Reformation (ab 1517) mit dem wichtigen Element der Übersetzung der Bibel aus der hebräischen, griechischen und lateinischen Sprache ins Deutsche und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 18.(erst!) Jh. Nun erst wurde, langsam zwar, aber unaufhaltsam, das Studium der heiligen und auch weltlichen Schriften zugänglich für das gesamte Volk.

Ein Übriges und nicht zu Vernachlässigendes bewirkt das Zeitalter der Aufklärung4 (ab 1720 bis etwa 1800) mit der Ermutigung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, statt blind Vormündern zu folgen. Studium (lat. Eifer) ist das Mittel der Wahl, wobei ein geradezu archetypisches Bild für Studium die Vertiefung und kritische Durchdringung von Büchern ist. Studium ohne Bücher ist nicht recht vorstellbar, wobei unter „Buch“ jedwede Form schriftlicher Fixierung zu verstehen ist, hier besonders die Heiligen Schriften aller Kulturen und Zeiten. Das physische Buch, in welcher Form auch immer, eröffnet wie seit Jahrtausenden, jetzt aber im Gegensatz zu früheren Zeiten jedem, den Königsweg ernsthaften Studiums.

Zum Studium besonders prädestiniert sind natürlich Orte, an denen Heilige Schriften und weitere schriftliche Kulturzeugnisse versammelt sind, seien es Blattsammlungen, Schriftrollen, Bücher und andere, so z.B. Klosterbibliotheken, die ein fester Bestandteil eines jeden Klosters sind. Hier reiht sich das moderne Kloster Gut Saunstorf ein, das sowohl über eine gutsortierte allgemeine Bibliothek mit spirituellem Schwerpunkt, als auch über eine besondere Studienbibliothek mit dem Focus auf zeitloser Weisheitsliteratur verfügt, wobei letztere vertieftem Studieren dienlich ist.  

Dr. Rüdiger Porep
Cheflektor des advaitaMedia Verlages

1 Seher (dessen, was ist; des Absoluten)

2 Hartmann von der Aue (um das Jahr 1200), „Der arme Heinrich“, die ersten fünf Verse der Dichtung

3 Drucktechnik im heutigen Sinn

4 Zitat: „AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.…“ Quelle: Immanuel Kant – 1724 bis 1804, Philosoph in Königsberg. Textauszug nach dem Original, erschienen zuerst unter dem Titel: »Beantwortung der Frage: Was ist Auf-klärung?« in: »Berlinische Monatsschrift«, Dezember-Heft 1784, S. 481-494.