Auszug aus einem Vortrag von OM C. Parkin
Bildung hat in Deutschland eine 700 hundertjährige Geschichte hinter sich und im Laufe dieser Geschichte hat dieser Begriff seine Bedeutung sehr stark verändert und das, was er ursprünglich bedeutete, ist uns leider verloren gegangen. Tatsächlich ist es ein urdeutscher Begriff, der nur in der deutschen Sprache verwurzelt ist. Es gibt in anderen Sprachen z.B. im Englischen, im Französischen oder im Spanischen gar kein Äquivalent für diesen Begriff. Die einzig mögliche Übersetzung ist education, was im Deutschen ja mit Erziehung übersetzt wird, Bildung läßt sich nicht übersetzen. Es ist so, dass in der altdeutschen Sprache der Begriff Bildung gar Schöpfung hieß. Tatsächlich ist Bildung ein Begriff, der zurückgeht auf die spätmittelalterliche Mystik und dieser philosophisch geistige Begriff des Bildens ist wahrscheinlich eine Wortschöpfung des bekanntesten Mystikers der deutschen Geschichte christlicher Mystik, Meister Eckhart, der im Übergang vom 12. ins 13 Jahrhundert lebte. Meister Eckhart bezeichnete den menschlichen Lebensweg als einen Weg der Ent-bildung des Menschen und der Ein-bildung in Gott, um seiner selbst und aller Dinge ledig zu werden und Eins mit Gott zu sein.
Nun, das ist eine Sprache, die schwer verständlich ist, denn sie ist siebenhundert Jahre alt. Ich zitiere weiter: Das Bild Gottes, das von der Schöpfung her wie ein Samenkorn in der Seele liegt, aber durch die Bilder – das ist jetzt meine Sprache – des denkenden Ich-Geistes verdunkelt ist, wird wieder hergestellt, in dem sich die Seele von ihren eigenen Ein-bildungen befreit, also ent-bildet und sich in Gott und in die reine bildlose Form Gottes ein-bildet.
Im Lichte dieses ewigen Bildes der Gottheit sind die Menschen in ihren ständigen Vor-bilden – der Begriff für Ideen – kein Hindernis, sondern ein Weg zu Gott. Für Meister Eckhart war Bildung ein reines Anwesen und Empfangen Gottes, welches über die Vernunft und den persönlichen Willen hinausging. Er nannte die Bildung die Geburt des Sohnes Gottes in der Seele.
Wir sehen hier, dass Bildung im Gegensatz dazu, wie sie heute verstanden wird, in diesem mystischen Verständnis nicht als eine Leistung des Ichs, nicht als ein ichhaftes Tun, sondern als eine Formung des Göttlichen im Menschen verstanden wurde, als eine Formung aus sich selbst heraus, aus dem Innersten, aus der Seele des Menschen. Dies ist das uralte mystische Verständnis von Bildung als ein Schöpfungsakt Gottes, in dem Gott sich im Menschen sein eigenes Bild schafft.
Auch bei Jacob Böhme, einem evangelischen Mystiker, der dreihundert Jahre später lebte, finden wir noch dieses Verständnis. Ich zitiere:
„Bildung ist der bildliche Wille Gottes, ein göttlicher Willensakt der Selbstprojektion, die Gott zum Bilde zur Gestaltnis des Geistes drängt, darinnen der Geist Gottes sich selber siehet.“
Das bedeutet übersetzt, Bildung ist ein göttlicher Willensakt, kein menschlicher, in dem Gott sich ein Ebenbild im Menschen schafft, so daß er sich im Spiegelbild selber sehen kann. So heißt es ja auch in der Genesis, im ersten Buch Mose: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.
Meister Eckhart sprach von Ent-bildung des Menschen und der Ein-bildung in Gott. Das ist ein Sprachgebrauch, der sicherlich heute nicht mehr üblich ist. Was bedeutet das?
Um das zu verstehen, muss sich der Mensch zunächst vergegenwärtigen, dass er in seiner Welt in eigenen Bildern lebt.
Ich zitiere aus der Bibel; zunächst einmal erinnern wir uns an die zehn Gebote im 5. Buch Mose: „Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“ Es gibt in der Bibel weitere Stellen, die dieses Verständnis der Ent-bildung oder des Bildungsweges als Ent-bildung eigener Bilder wieder geben. Ich habe aus dem Neuen Testament den Brief des Paulus an die Römer ausgewählt, und ich zitiere:
„Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild, gleich dem eines vergänglichen Menschen.“
Oder im Alten Testament Psalm 97:
„Schämen sollen sie sich, die den Bildern dienen und sich der Götzen rühmen.“
In Psalm 106 heißt es dann:
„Sie beteten das gegossene Bild an und verwandelten die Herrlichkeit Gottes in das Bild eines Ochsen, der Gras frisst.“
Nun, ich denke das ist ein schönes Bild in diesem Psalm, wie der Mensch die innere Weite, die Größe und die Ein-bildung in Gott, wie Meister Eckhart sagt, verlässt. Und wer ist nun der Ochse? Er selbst.
Bildung ist also seinem mystischen Ursprung nach der Weg der Ent-ledigung, der Ent-bildung aller Bilder, aller Selbstbilder, aller Menschenbilder und aller Weltbilder, die der Mensch in seinem Geiste geschaffen hat, um wieder zum Ebenbild Gottes zu werden. Ich erinnere noch einmal an das Zitat aus dem 1. Buch Mose: „und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.“
Warum, könnte man fragen, will der Mensch, das Ich im Menschen, sich selber bilden, anstatt sich bilden zu lassen. Nun, es scheint so zu sein, dass der Mensch über die eigenen Bilder, in denen er lebt, eine Kontrolle über das Leben zu haben glaubt, und dass er Angst davor hat, ohne Bilder zu leben, ohne Hoffnung zu leben, ohne Vergangenheit zu leben und ohne Zukunft zu leben. Es ist ein Weg, der ins Unbekannte führt.
Kommen wir jetzt zu dem modernen Verständnis von Bildung. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde Bildung verstanden als die Entfaltung schöpfungsgegebener Anlagen durch die bildenden Kräfte der Natur selbst. Doch im 18. Jahrhundert begann dieses Wissen verloren zu gehen, und es begann sich mehr und mehr ein Verständnis von Bildung durchzusetzen, welches auch unserem modernen pädagogischen Verständnis von Bildung entspricht. Nämlich die Hervorbringung des höchsten Potentials von Menschlichkeit durch die eigene Leistungsanstrengung des Ichs. Das ist ein humanistisches Bild, und es ist tatsächlich die höchste Entfaltungsebene, die ein Mensch erreichen kann, der seinen eigenen, relativ freien Geist als die höchste Instanz annimmt. So wie es in der Aufklärung geschehen ist, in der wir, aus meiner Sicht, geistesgeschichtlich immer noch leben.
In diesem Verständnis erlebte sich der Mensch immer mehr als ein isoliertes Individuum, das sich behaupten musste, das seinen Willen durchsetzen musste und das die Aufgabe hatte, sich als Mensch zu vervollkommnen. Bildung wird jetzt zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem gegenwärtigen unzureichenden Zustand, in dem ich mich aufhalte, und einem Persönlichkeitsideal in der Zukunft. Aber wenn wir genau hinschauen, wo wir uns heute, in unserem heutigen Bildungsverständnis befinden, dann sind wir ja auch da nicht mehr. Um die heutige Bildungskatastrophe zu verstehen, müssen wir noch einen Schritt weiter gehen. Bildung ist ja heute keine Angelegenheit des Einzelnen mehr, sondern sie wird zu einer staatlich verordneten Angelegenheit. Zunächst war Bildung ausschließlich eine Angelegenheit zwischen mir und Gott, zwischen mir und dem Höchsten, und dann zwischen mir und meinem eigenen Geist. Jetzt gibt es, spätestens seit Einführung der Schulpflicht, einen dritten im Bunde, das ist der Staat.
Ich möchte zitieren aus dem Buch „Das glückliche Kind“ von Steven Harrison, einem amerikanischen Mystiker und Lehrer. Er schreibt:
„Doch der Kern des Schulobligatoriums“ – also der Schulpflicht – „liegt in einer Stellung des Staates, welche ihn über die elterliche Gewalt erhebt, die Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen. Mithin den Staat über die Freiheit der Kinder stellt, ihr Leben selbst zu bestimmen. Der Staat kann von den Eltern zwar verlangen, dass sie ihre Kinder in der Schule abliefern, aber jedes Kind weiß, dass absolut niemand, weder die Eltern, noch die Schulleitung, weder Polizisten noch Politiker, die Preisgabe ihrer Seele und ihres Herzens, ihre Aufmerksamkeit und ihren Willen zur Teilnahme am Unterricht erzwingen können. Der überwiegende Teil der Schülerschaft besteht denn auch aus Lernverweigerern aus Gewissensgründen, aus Kindern, die sich dem Zwangsmodell zur Gedankenkontrolle verweigern, und diese Schüler sind sich wohl bewusst, dass sie nie danach gefragt wurden, was sie aus eigenem Antrieb in ihrem Leben tun wollen. Ob die Schule ihnen überhaupt etwas zu bieten hat, oder ob ihre wichtigsten Pläne und Projekte durch den Schulzwang nicht sogar eher behindert werden. Sie sind wütend, und was sie letztlich in der Schule lernen ist, wie man das System untergräbt, wie man sich durchmogelt, wie man es durch hält oder raus fällt.“
Nun, das sind ziemlich radikale Äußerungen, die Bezug nehmen auf die derzeitige Bildungssituation von Schülern, die, wie er es nennt, einem gedanklichen Zwangsmodell unterzogen werden, was nicht wirklich ihrem eigenen Innersten, ihrer eigenen inneren Kreativität entspricht.
Ich möchte jetzt an diesem Punkt Bezug nehmen auf die Lehrpläne, als Beispiel die Lehrpläne des Landes Schleswig-Holstein, die mir zur Verfügung gestellt wurden. Dabei ist mir beim Studium des Konzeptes der Grundbildung aufgefallen, dass zwei wesentliche Aufgaben von Bildung formuliert werden. Interessant ist die Reihenfolge, in der sie genannt werden. Erstes Ziel ist es, alle zur Mitwirkung an den gemeinsamen Aufgaben in Schule, Beruf und Gesellschaft zu befähigen. Danach ist es Ziel von Grundbildung, allen zur Entfaltung ihrer geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten, ihrer individuellen Begabung und Neigung zu verhelfen. Wesentlich ist hier die Reihenfolge der beiden Aspekte, die in der Grundbildung genannt werden.
Also, ich habe beim Studium dieser Lehrpläne zwischen den Zeilen, nicht so direkt ausgesprochen, ein gewisses Menschenbild gefunden, was dem Bildungskonzept zugrunde liegt. Ich drücke es einmal ganz einfach aus, ich drücke es mal krass aus. Eigentlich ist der Mensch von Geburt an dumm und weiß nichts, er ist ein leeres Gefäß, das von Lehrern, Wissenden, Gebildeten im Außen auf irgendeine Art und Weise gefüllt werden muss, verbessert werden muss, erhöht werden muss.
Es ist interessant anzumerken, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, die Kinder in einem Schulsystem unterbringt, welches alles andere als demokratisch organisiert ist. Ein System, in dem Kinder keinerlei Mitverantwortung tragen, kein Stimmrecht haben für das, was sie wirklich lernen wollen. Erinnern wir uns an unsere eigene Schulbildung. Ich erinnere mich an meine eigene Schulbildung und kann sagen, dass die eigentlich Bildung trotz der Schulbildung passierte, neben dem Unterricht, am Unterricht vorbei, in der Rebellion gegen den Unterricht. Wir erinnern uns daran, dass wir mit sehr viel Wissen vollgestopft worden sind, welches wir vielleicht noch im Interesse des guten Benehmens gelernt haben und in der Hoffnung auf gute Noten, aber nicht wirklich aus ureigenstem, inneren Interesse.
Hier setzt das Schulexperiment von Steven Harrison an, einem amerikanischen Mystiker unserer Zeit, der in Boulder, Colorado die Living School gegründet hat, eine vollständig demokratisch organisierte Schule.
Eine Schule, die so demokratisch ist, dass sie selbst vielen Eltern, die ihre Kinder an dieser Schule haben, zunächst Angst machte. Denn tatsächlich ist das unterliegende Grundverständnis, dass das Kind an sich eigentlich dumm ist und gebildet werden muss, auch bei den Eltern vorhanden. D.h. sie gehen davon aus, dass, wenn man ein Kind ohne Struktur, ohne Lehrplan, ohne den Zwang und die Disziplin bestimmter Wissensvermittlung einfach in einem kreativen Raum allein lässt, dieses Kind dann genau das tun wird, was es auch in der Schule tut, nämlich sich den erst besten Fluchtweg zu suchen, um sich zu vergnügen.
Quelle: Auszug aus einem Vortrag von OM C. Parkin vom 11.10.04 in Hamburg