Spirituelles Leben

Einführung in den Integralen Yoga

Artikel von OM C. Parkin

Wie sieht ein spirituelles Leben aus? Antwort: Gar nicht. Es sieht gar nicht aus. Das heißt, es sieht nicht auf eine bestimmte, vom denkenden Geist eindeutig zu erfassende Weise aus. Auf der Suche nach äußeren Merkmalen eines spirituellen Lebens sind wir gezwungen, „unspirituelle“ Ausdrucksformen zu definieren, was uns in eine Eingrenzung von Spiritualität führt. Spiritualität meint jedoch zutiefst das, was seinem Wesen nach unbegrenzt ist. In einem Dialog mit Annette Kaiser, einer Lehrerin aus der Schweiz, definierte ich Spiritualität als „die alles durchdringende Kraft dessen, was IST“. Diese absolute Perspektive lässt weder Raum für unspirituelle Lebensformen im Allgemeinen, noch für unspirituelle menschliche Ausdrucksweisen im Speziellen. Ein Stein ist demnach genauso spirituell wie eine Kuh, eine Kuh genauso spirituell wie ein Mensch, ein Psychopath genauso spirituell wie ein Erleuchteter. Es existiert zur Spiritualität kein Gegensatz, da sie ihrem Wesen nach adualistisch, advaitischer Natur ist und das EINE, seine Wirkung und seinen Ausdruck meint.1

Das war die Beschreibung der absoluten Perspektive. Doch jetzt verlassen wir die absolute Perspektive, treten ein in die Welt der relativen Wahrheiten, die uns in die Entwicklung menschlichen Bewusstseins führen. Und auch hier, in dieser relativen Perspektive, verlieren wir die Eindeutigkeit, was Spiritualität eigentlich ist. Ihr werdet gleich hören, was ich meine. Die menschliche Evolutionsforschung unterscheidet je nach Feingliederung zwölf oder mehr relativ unabhängige Entwicklungsstrahlen oder Entwicklungslinien, in denen sich die menschliche Entwicklung vollzieht, z.B. instinktiv, emotional, kognitiv, sozial, moralisch, Weltsichten, spezielle Begabungen. Unter Forschern herrscht Uneinigkeit darüber, ob Spiritualität sich auf einen dieser Entwicklungsstrahlen bezieht (also ein eigener, von anderen Entwicklungsstrahlen zu unterscheidender spiritueller Entwicklungsstrahl ist), oder ob Spiritualität sich auf eine bestimmte, hohe Entwicklungsstufe, also eine Ebene aller Strahlen bezieht. Ist Spiritualität ein Entwicklungsstrahl des Menschen oder ist es eine bestimmte Ebene, ein bestimmter Reifungsgrad seiner Entfaltung? Beide Perspektiven sind grundsätzlich möglich, und es ist ausschließlich die Frage, was man unter Spiritualität versteht. Ich möchte hier die Unterscheidung zwischen regressiver, prärationaler Spiritualität und transrationaler, transformativer Spiritualität einführen, um diese beiden Perspektiven deutlich zu machen. Betrachten wir zunächst Spiritualität als eigenen Entwicklungsstrahl des Menschen. Nach dem Religionsphilosophen Paul Tillich definiert Ken Wilber „die spirituelle Linie als diejenige Entwicklungslinie, an der das Subjekt sein höchstes Interesse hat, gleichgültig, was deren Inhalt ist“. Das als spirituell zu bezeichnen, was ein Mensch als sein höchstes Interesse verfolgt, das klingt zunächst vielleicht abwegig. Deutlicher wird es erst, wenn Wilber die Zuordnung zu den verschiedenen Entwicklungsstufen und deren Weltbildern vornimmt. Er spricht dann von einer „magischen Religion, einer mythischen Religion, einer rationalen Religion, einer subtilen Religion und einer nichtdualen Religion“. So betrachtet ist auch ein Rationalist, ja selbst ein Atheist spirituell, denn er vertritt eine rationale Religion, man könnte also hier auch den Begriff „Spiritualität“ einsetzen. Vielleicht erinnert ihr euch an die kurze Geschichte von der Begegnung eines Intellektuellen mit einem Mönch. Sie stammt aus „Intelligenz des Erwachens“ und ich zitiere sie hier noch einmal:

Ein Intellektueller begegnet einem Mönch und kommt mit ihm ins Gespräch. „Glauben Sie an Gott?“ fragt ihn der Mönch. „Nein“, erwidert der aufgeklärte Denker schmunzelnd, während in seinen Mundwinkeln unverkennbar eine leichte Überlegenheit spielt, „die Zeiten sind vorbei.“ Eine Anspielung auf die Zeit vor seiner Aufklärung. Der Mönch jedoch tut verblüfft, so als würde diese Aussage gar keinen Sinn ergeben. „Aber selbstverständlich glauben Sie an Gott.“ „Wie meinen Sie das?“ fragt der Intellektuelle leicht ungehalten. „Nun, Ihr denkender Geist ist Ihr Gott“.2

Als ich eben versucht habe, das alles zu verstehen, hat sich mir die Frage gestellt: Ist die Seele dem Selbst untergeordnet?

Du kennst in der hinduistischen Philosophie den Unterschied zwischen Atman und Brahman?

Atman ist das Selbst.

Nein, Atman ist die Seele und Brahman ist das Selbst. Und Atman ist Brahman. Die Seele, alle Begrifflichkeiten, die wir verwenden, sind, bis auf die ganz wenigen, die das Absolute beschreiben, relativer Natur und dienen vorübergehender Lehre menschlicher Sucher. Das heißt, es könnte auch eine Realität geben, in der es keine Seele gibt. Aber die Seele ist in jedem Fall der Kernbegriff dieses Körper-Verstand-Mechanismus der Zweiten Ordnung. Wir unterscheiden ja im Menschen zwei grundsätzliche Systeme, die sich überlagern, verschleiern, die einander, wenn man so will, fremd sind. Die Menschen leiden ja im Grunde daran, dass sie diese Systeme nicht vollständig unterscheiden können, und dass ihr Zugang zu dem ursprünglichen System, nämlich dem System der Seele, begrenzt ist. Die Seele scheint immer wieder durch. Und selbst ein Kind, vielleicht kann man auch manchmal sagen, gerade ein Kind, erfährt Zustände der Seele. Doch das andere System, auch beschrieben als das System des Egos, beginnt dann, dieses ursprüngliche System, das aus der Quelle entspringt, zu überlagern, zu überschatten und entsprechend zu verzerren. Seele ist das tiefe, das ursprüngliche System dieses Körper-Verstand-Mechanismus, um den Begriff von Ramesh auch hier wieder zu benutzen, und beschreibt jetzt in der Ewigen Philosophie auch den großen Kreislauf der drei Gehirne des Menschen, und ich nenne den Zustand der Seele auch das vierte Gehirn des Menschen. Das vierte Gehirn beschreibt einen transzendenten Zustand der Seele, in dem das erste System transformiert worden ist, und wie ich das einmal in einem Brief an Gangaji schrieb, ein Eignerwechsel stattgefunden hat. Der Organismus ist sozusagen an einen anderen Eigner übergeben worden und dient jetzt dem höheren Selbst, und die Seele  gleicht diesem Tropfen im Ozean, der zwar noch ein Tropfen ist, aber sich seiner Ozeannatur vollständig bewusst ist.

Dem gegenüber steht die wahre, die persönliche Welt des Ichs transformierende Spiritualität, welche dort beginnt, wo die Lehre und das Denken des Ich-Geistes an ihre Grenzen stoßen. Dementsprechend wird sie mit verschiedenen ‚trans‘-Attributen beschrieben: trans-egoisch, trans-rational, trans-personal, trans-formativ. In der Großen Kette beginnt wahre Spiritualität folglich dort, wo die Seele berührt wird. Der Begriff ‚Seele‘ beschreibt in dieser groben Gliederung (Erste Ordnung: Materie, Körper, Geist; Zweite Ordnung: Seele, Gott) nicht nur eine höhere Entwicklungsstufe in der evolutionären Hierarchie des Bewusstseins als Geist, sondern einen Entwicklungssprung, einen Übertritt in die Zweite Ordnung, die überpersönliche Ordnung im Bewusstsein des Menschen, welche die Erste Ordnung, die ichdominiert und persönlicher Natur ist, trans-formiert hat. Das ist eine Gegenüberstellung, die in verschiedenen Texten von mir auftaucht, diese grundsätzliche Zweiteilung menschlicher Evolution in die Erste und die Zweite Ordnung. In dieser Zweiten Ordnung ist ein ‚gap‘, eine Lücke, übersprungen worden, sodass ein Geist, der auf einem ichhaften Denker beruht, wie das in der Ersten Ordnung, egal in welcher Stufe, der Fall war, nicht mehr vorhanden ist, weil die geistige Welt eines Menschen der Zweiten Ordnung grundsätzlich aus einer anderen Quelle stammt. Die Seele ist ein Begriff der Zweiten Ordnung. Sie ist wie der Tropfen Wasser: dieser hat zwar noch eine eigene Form, trägt in sich aber bereits das Bewusstsein des Ozeans, während das SELBST das formlose Bewusstsein des Ozeans selbst ist. Geist hingegen (kleingeschrieben), gleicht ebenfalls einem Tropfen Wasser, jedoch mit dem Bewusstsein eines eigenständigen Tropfens. Ein Tropfen ohne das Bewusstsein des ‚Wasserseins‘. Der Anfang vom Ende einer Person, eines Jemand. Wenn dieser Verstand, diese Ich-Identität sich auflöst, weil die Beziehung zu einem angenommenen persönlichen Denker schwindet, dann beschreibt das logische Denken in linearen Kausalzusammenhängen nicht mehr die höchste Realität. Das Paradies nicht mehr außerhalb, sondern inmitten der Hölle zu finden, das Zusammenfallen des Höchsten und des Niedersten, die Vereinigung von Jenseits und Diesseits, des Unmanifesten mit dem Manifesten, die Gleichzeitigkeit von Himmel und Hölle in einem einzigen Moment, die Leerheit alles Geschaffenen, all das ist jenseits des Horizontes eines aufgeklärten, eines rationalen Ich-Geistes. Es ist unlogisch, oder besser: translogisch. Diese Translogik ist angefüllt mit Paradoxien, ein Merkmal der Zweiten Ordnung, welche erstmals das Wesen des Menschen freilegt. Ein Mensch der Zweiten Ordnung ist kein persönlicher Mensch mehr. Und dennoch, oder gerade deswegen ist die Menschlichkeit ein ihm zutiefst innewohnender Ausdruck. Wer kann das verstehen? Es ist die Frage: „Wer ist der Mensch?“, welche nach letzten Antworten verlangt. 

Ich werde jetzt kurz die Entwicklung der Lehre beschreiben, die dann im Integralen Yoga mündet. Ich kann heute Abend allerdings nicht ausführlich über Integralen Yoga sprechen, ich kann nur Anmerkungen darüber machen, denn das ist ja kein Thema eines Abends, es ist die Synthese aller Wege. Ich zitiere aus meinem Buch „Spirituelle Meisterschaft“:

Alle spirituellen Wege, alle Erwachenswege der Menschheit, gleich innerhalb welcher Tradition, werden unterschieden in die Wege des aufsteigenden Bogens und die Wege des absteigenden Bogens. Das ist eine sehr zentrale Aussage. Das heißt, jede Form spiritueller Handlung muss auf diese Weise unterschieden werden. Wir nennen es auch aufsteigenden oder absteigenden Yoga. Die Geschichte der spirituellen Suche des Menschen, sie erzählt auch von der Unvereinbarkeit dieser Wege, von ihrer Konkurrenz, und manchmal gar von ihrer Feindseligkeit gegenüber der andersartigen Spiritualität. Asketen und Hedonisten, Jenseitsorientierte und Diesseitsorientierte, Transzendente und Immanente, Wahrheitssucher und Liebende, sie lebten häufig aneinander vorbei, gingen einander aus dem Wege, missverstanden einander, obwohl sie eigentlich das Gleiche suchten: das Ende ihres Ausgeliefertseins an den Tod und damit an die Vergänglichkeit. Die Einkehr in das Unvergängliche, das Ewige. Natürlich haben sich Sadhakas beider Pfade immer wieder bekriegt, manchmal bis aufs Blut. Aus Unwissenheit, denn welchen Pfad ich zunächst auch betrete, das alleinige Gehen dieses Pfades wird begrenzt bleiben. Kein Aufsteiger erlangt letzte Erkenntnis, kein Absteiger kann die Realität erkennen, denn es geht um die Vereinigung beider Wege, die Vereinigung auf dem paradoxen Weg.3

Das ist sehr kurz und knapp gehalten die erste Einführung in das, was Integraler Yoga ist, was es meint. Das hat Konsequenzen auf sehr vielen, auch sehr praktischen Ebenen spiritueller Handlungen, bis in die kleinen täglichen Handlungen hinein.

Mich beschäftigt der Weg der Mitte oder diese Mitte, die du auch als Meditation beschrieben hast, und wenn Du von gleichzeitigem Aufstieg und Abstieg sprichst, ist mir irgendwie klar, dass die Mitte kein Ort ist und eben nicht zwischen hier und hier liegt, sondern dass es eine andere Form der Mitte ist. Kannst Du dazu etwas sagen?

Die Mitte ist der Nicht-Ort zwischen den Polaritäten, der die Polaritäten auf mysteriöse Art und Weise miteinander vereinen kann. Wenn man erkennt, dass ich die Aufmerksamkeit von den Polaritäten abziehen muss, dass es weder um die eine noch um die andere geht, so wie das in der Ersten Ordnung geschieht, das Pendeln zwischen den Polaritäten, entweder ich bin gut oder ich bin böse, ich bin Mann oder ich bin Frau. Das ist alles die Leugnung und die Ignoranz gegenüber der Mitte. Die Mitte ist jener Ort, jener Nullpunkt, an denen das geistige Pendel, welches ewig weiterschwingen will, zu Ende kommt, für einen Moment einen Raum öffnet, einen Spalt öffnet, der in einen Fall hineinführt, der diesen Raum der Mitte öffnet. Diese Mitte ist dann kein Ort mehr, so wie wir uns im Denken der Polaritäten Orte vorgestellt haben. Es ist ein Nicht-Ort, aber es ist auch nicht kein Ort. Diese Mitte ist der Ort der Vereinigung. Aber es ist nicht ein Ort, an dem wir etwas vereinigen können, es ist vielmehr ein Ort, an dem ES bereits vereinigt ist. Und was es braucht, ist, diese ewige Aufmerksamkeitsverhaftung an den Polaritäten aufzugeben. Es ist ja von vorübergehender Wichtigkeit, sich mit diesen Polaritäten auseinander zu setzen und zu verstehen, was denn nun männlich ist und was weiblich ist, zum Beispiel. Aber das eigentliche Hindernis ist ja die Anhaftung an diese Polaritäten. Die Mitte ist nicht weiblich, die Mitte ist nicht männlich, sie ist auch nicht männlich-weiblich. Die Mitte ist jenseits davon. Aber den Weg der Mitte zu gehen ist eine ganz wesentliche Instruktion des inneren Weges, es ist ja eigentlich ein buddhistischer Begriff, der aber universeller Natur ist. Deswegen verwende ich ihn. Es hat viele Bedeutungen bis in konkrete Handlungsanweisungen für Menschen, die den inneren Weg gehen und nach Harmonie streben. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass es in jedem Fall darum geht, Extreme zu meiden, weil Unmäßigkeit nicht dem Weg der Mitte dient. Vielleicht erinnert ihr euch an den Abschluss eines Vortrages, den ich schon früher einmal  über den Integralen Yoga gehalten habe und in dem ich eine Liedstrophe von Sivananda zitiert habe: “Eat a little, drink a little, meditate a little, have satsang a little“.

Anmerkungen:

1. OM C. Parkin, Spirituelle Meisterschaft, advaitaMedia 2019, S. 215-216

2. ders., Intelligenz des Erwachens, advaitaMedia, 3. Aufl. 2019, S. 26

3. ders., Spirituelle Meisterschaft, S. 229-230

Quelle:

Auszüge aus Lesung und Dialog mit OM zu dem Buch: Spirituelle Meisterschaft, 02.09.2021, Kloster Gut Saunstorf – Ort der Stille