Interview mit Regina Sara Ryan und Mary Angelon Young – Schülerinnen von Lee Lozowick

Triveni Ashram in Arizona 03-03-2019

F: Wie lebt die Gemeinschaft nach dem physischen Tod eures Lehrers Lee Lozowick weiter? Was seht ihr als Chance und welche Schwierigkeiten erfahrt ihr? Was ist die Funktion eines wahren Lehrers und warum gibt es in der westlichen Welt so wenig Gurus? Und wenn es sie gibt, warum werden sie von den meisten Menschen eher argwöhnisch betrachtet und mit Vorurteilen belegt?

Mary Angelon Young (MAY): Ich möchte zuerst etwas über den Unterschied zwischen einem Guru und einem Lehrer sagen. Es gibt viele Menschen in der spirituellen Welt, die auf dem spirituellen Weg als Lehrer fungieren, aber sie übernehmen nicht unbedingt dieselbe Verantwortung für den Schüler wie der Guru. Vor allem, wenn wir über jemanden sprechen, der sich in der Rolle des Satgurus befindet.

In Indien ist jeder, der auf irgendeinem Gebiet Autorität besitzt, ein Guru. Meister Tabla Spieler gelten als Gurus, und sie sind es auch in diesem speziellen Bereich. Aber der Satguru, der Guru, der Wahrheit und Sein für dich repräsentiert, der ein vollkommener Spiegel für dich ist, vertritt eine andere Ebene der Lehre und Unterweisung.
Wir können es als eine Art Übertragung, die den Aspekt der Hingabe nicht so sehr in den Vordergrund rückt, betrachten. Jemand, der dich Musik lehrt oder der vergleichende Religionswissenschaften studiert hat und dir die Grundzüge des Buddhismus, des Hinduismus, des Sufismus oder Christentums und so weiter beibringen kann – solche Leute sind sehr sachkundig und können dir bis zu einem bestimmten Punkt helfen. Auf gewisse Weise übertragen sie vielleicht etwas, aber sie erfüllen nicht die Aufgabe einer Übertragung von Sein zu Sein, von Geist zu Geist, wie ein Satguru sie erfüllt.
Der Guru steht so gesehen für dein wahres Selbst, bis du es selber realisiert hast. Er nimmt uns alles, all unsere Projektionen, all unsere Hoffnungen und Träume, unsere Verwirrung, unsere vergeblichen Versuche, unsere Fehlstarts, unsere Fehler, er nimmt uns einfach alles. Und er nimmt es nicht nur für diese Inkarnation, sondern er übernimmt auch unser Karma. Er hat es bereits übernommen.

Diese Frage von Guru und ihm vollkommen ergebenen Schüler ist eine sehr, sehr tiefe Frage. Woher weißt du, ob jemand dein Guru ist, ob jemand diese Funktion für dich erfüllt? Woher weißt du das? Mit dem Kopf kann man es nicht wissen. Das ist ausschließlich eine Angelegenheit des Herzens. Es ist eine Begegnung von Herz zu Herz. Und auch wenn wir in unserem Leben enge und tiefe Beziehungen zu anderen Lehrern haben können, gehört die Intimität von Herz zu Herz, von Geist zu Geist mit dem Satguru einer anderen Ebene an.

Der französische Lehrer Arnaud Desjardins, der mir ein spiritueller Freund war, sprach immer von Upa-Gurus. Ein Upa-Guru könnte dir eine Hilfe sein, dir die richtige Richtung weisen und dir Orientierung geben. Upa-Gurus sind sehr wertvoll auf dem spirituellen Weg, aber sie sind nicht der Satguru.

Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist nichts, wofür man sich entscheidet. Du triffst diesen Menschen und bist vielleicht noch nicht einmal sonderlich froh über dieses Zusammentreffen. Denn wenn du einmal denjenigen getroffen hast, der die Funktion des Satguru – und es ist eine Funktion – für dich verkörpert, dann könnte die Hölle in deinem bequemen Leben ausbrechen

F: Dies ist bereits ein Teil der Antwort auf meine nächste Frage. Wie kommt es, dass es nach Jahren des Austausches zwischen westlichen und östlichen Traditionen für westliche Menschen immer noch so schwierig ist, in unserer westlichen Welt die Guru-Funktion zu akzeptieren?

MAY: Das ist sehr schwierig und sehr komplex. Das geht zum Teil direkt auf den Kern der Unterschiede zwischen der westlichen und der östlichen Philosophie zurück. Ich will jetzt keinen Vortrag darüber halten, aber im Allgemeinen steht in der westlichen Philosophie eher das Individuum, die Entwicklung des Individuums im Mittelpunkt. In der östlichen Philosophie liegt dagegen der Schwerpunkt auf der individuellen Verwirklichung der Einheit mit allem.

F: Glaubst du, dass das für die Amerikaner noch schwieriger zu verstehen oder zu akzeptieren ist als für uns Europäer?

MAY: Sagen wir, es ist unterschiedlich, nicht unbedingt schwieriger. Letztlich sind wir alle Westler. In den letzten fünfundzwanzig Jahren habe ich mindestens drei bis vier Monate jährlich in Europa verbracht. Ich habe viele Freunde dort, auch mein Mann ist Europäer. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass wir alle Europäer sind. Das heißt, wir teilen auch einige psychische Grundlagen, wie die jüdisch-christliche Tradition. Damit berühren wir einen weiteren fundamentalen Unterschied zwischen Ost und West. Im Westen haben wir dieses Problem der Erbsünde. Das ist ein sehr großes Problem für uns westliche Menschen, weil es einfach in unserer Psyche verankert ist. Es spielt keine Rolle, ob man jemals in die Kirche gegangen ist oder nicht. Es ist tief bis in unsere Zellen verankert und beeinflusst unsere psychischen, sozialen, kulturellen und religiösen Erfahrungen. Es spart nichts aus, keinen einzigen westlichen kollektiven und individuellen Lebensbereich.
Im Osten ist das anders. Die Lehren über Erleuchtung oder die ursprüngliche  Unschuld unserer wahren Natur – Sajaha, wie die Bauls es ausdrücken – sagen aus, dass all das bereits vorhanden ist. Es ist uns vollständig gegeben, es ist ein Geschenk Gottes und in sich selbst schon vollkommen. Unsere Aufgabe auf dem Weg besteht darin, uns dessen wieder gewahr zu werden, darin zu verweilen und es zu verwirklichen. Unsere eigentliche Arbeit besteht in der bewussten Realisation. Wir arbeiten daran, es ins Bewusstsein zu bringen, statt es tief unterhalb unserer Psyche und unseres Karmas als leisen Klang im Unterbewusstsein ertönen zu lassen.

Das ist ein riesiger Unterschied. Denn wenn wir uns in der Tiefe für schlecht halten, werden wir, wenn wir Westler sind, einen langen Kampf vor uns haben, um irgendwie besser zu werden. Das wird wahrscheinlich auch zu schwierigen Begegnungen mit spirituellen Autoritäten jeder Art führen, besonders wenn es sich um einen Guru handelt, weil ein Guru nun einmal die höchste spirituelle Autorität darstellt. Es ist ein patriarchalisches Prinzip, egal ob der Guru ein Mann oder eine Frau ist. Amritananda Mayi ist beispielsweise ein Hardcore Guru für ihren inneren Kreis. Für die Massen ist sie die wundervolle, gesegnete Mutter; sie macht da wirklich unglaublich schöne Arbeit. Aber für ihren inneren Kreis ist sie die unerbittliche, strenge Einsatzleiterin. Sie ist der Satguru und ihr geht es nur um eine Sache

F: Für mich steht der Lehrer auch für den Tod und niemand möchte dem Tod begegnen. Glaubst du, dass das Menschen abschreckt? Wie könnte denn jemand dazu bereit sein, den Guru, und damit auch den Tod, einzuladen?

MAY: Ich stimme dir zu, natürlich wollen wir nicht sterben. Wenn man mit einem Lehrer ist, ist es mit einmal Sterben nicht getan. Schicht um Schicht muss abgetragen werden. Und wenn eine Schicht abgetragen ist, dann ist sie unwiederbringlich dahin. Auf dem spirituellen Weg geht es ganz allgemein um die Reduktion der Persönlichkeit. Sie wird kleiner und kleiner, nicht größer, besser, erfolgreicher, schöner und so weiter. Eigentlich geschieht keine wirkliche Verkleinerung, aber es kann sich während des Prozesses so anfühlen. Meiner Erfahrung nach stößt und zieht uns der Guru in Momente des Verlustes, des inneren Sterbens oder Loslassens von etwas, das unserer Persönlichkeit wertvoll erscheint. Das können liebgewonnene Persönlichkeitsanteile sein, bei denen wir uns nicht bewusst sind, wie sehr sie uns einschränken und ein Gefängnis für uns sein können.

Es ist gut, einen erfahrenen Guru zu haben, der weiß was er tut! Nicht alle Gurus sind erfahren oder verfügen über geeignete Mittel zur Umsetzung; das kann schwer zu akzeptieren sein. Sind wir mit einem wahren Guru, dann haben wir uns auf einen beschleunigten Prozess dieser kleinen und großen „Tode“ eingelassen. Der Tod steht in diesem Fall für die Transformation. Jeder Tod ist eine Transformation. Nach vielen Jahren des Lehrens sagte Lee zu uns, „Ich mache überhaupt nichts mit den Schülern. Ich mache nichts, das Leben macht alles.“ Lee brauchte bloß durch den Raum zu gehen und schon hatten die Menschen eine kleine Todeserfahrung. Einfach durch die Kraft seiner Präsenz, die Verwandlung bewirkte, indem sie beständig die Realität oder das Göttliche übermittelte. Innerlich sagten wir „Bitte, nimm mir das nicht weg, ich möchte nicht sterben!“, um es mal ganz einfach auszudrücken. Im Grunde führt uns das Leben selbst mit all seinen Ereignissen im Laufe der Zeit durch diese Erfahrungen von Verlust, Tod und Transformation.

Haben wir uns dem Weg verpflichtet, dann wird dieser Prozess intensiver. Mit einem Guru wird der ganze Prozess noch beschleunigt. Aus meiner Sicht ist die eigene Beziehung zum ‚Großen Weg’ genauso wichtig wie die Lehrer-Schüler-Beziehung. Gurdjieff nannte es ,Arbeit‘, doch ich benutze lieber das Wort ‚Weg’. Hast du einmal Zuflucht zu einem spirituellen Weg genommen, wird dich der Weg selbst durch die Transformation führen. Der Guru muss da gar nicht so viel tun, er muss nichts übernehmen, weil der Schüler es schon selbst übernommen hat. Du musst selbst das Bedürfnis nach Transformation verspüren. Das erleichtert das Leiden des Gurus. Kannst du dir vorstellen, dass der Guru leidet? Er mag nicht von sich sagen, dass er leidet, aber er ist auch ein Mensch! Alles, was lebt, leidet. Der Guru leidet für und mit dem Schüler, bis der Schüler den Weg beschreitet und so gut er kann Seite an Seite mit dem Lehrer geht. Wenn dann der Guru versucht, etwas in dir zu ‚töten’, bist du dafür empfänglicher, weil du dir den Weg zu Eigen gemacht und dich bewusst für den Weg entschieden hast. Und jeden Tag erneuerst du deine Verpflichtung gegenüber deiner eigenen Transformation. Das ist eine ganz andere Beziehung zum Guru.

Regina Sara Ryan (RSR): Es hat auch damit zu tun, wie unterschiedlich wir den Tod im  Osten und im Westen erleben. Lee reiste schon sehr früh mit uns nach Indien. Er nahm auch viele unserer Kinder mit, obgleich sie noch sehr klein waren. Er nahm sie mit zu den Smashan, den Krematorien, und sie saßen dort und sahen zu, wie die Leichen mit Ghee übergossen und angezündet wurden. Die Schädel platzten und Gehirne quollen heraus und die Kinder hörten und sahen das einfach. Nicht weil wir sie dazu zwangen, sie waren vielmehr fasziniert davon und wollten bei dieser krassen Erfahrung dabei sein. In Indien hat man den Tod immerfort direkt vor der Nase. Der Kontrast zum Westen ist groß, wenigstens in unserer Zeit. Wir haben den Tod vollkommen verleugnet, wir haben ihn so weit von uns geschoben. Alles in unseren zeitgenössischen Medien dient dieser Verdrängung und Verleugnung. Wir haben eine Kultur hier im Westen, die den Tod verleugnet. So kommen Menschen an ihr Lebensende und sind völlig verzweifelt, weil sie sich nie mit der Realität ihres eigenen Todes auseinandergesetzt haben.

Warum sollte also jemand einen Guru aufsuchen? Vielleicht setzen sie sich dorthin in Bewegung, weil sie leiden und nach Trost und Erleichterung suchen. Aber je länger sie den Weg gehen, desto deutlicher erkennen sie, dass sie sich in einem Häutungsprozess befinden, der ihre gewohnten Verteidigungsstrategien, ihre Anhaftungen und ihre Identifikationen abschält. Mit anderen Worten, er wird zu einem Sterben, einem Sterben bevor du stirbst, ein tagtäglicher Tod. Wenn du dann aus einer Kultur wie der unsrigen kommst, dann willst du nicht sterben, du klammerst dich verzweifelt an irgendetwas, um das Sterben zu vermeiden.

F: Dann wird der Guru zum Feind.

RSR: Ja, dann ist der Guru dein Feind. Oder er bzw. sie ist total unkonventionell und verlangt Dinge von dir, die einem Geist, der am Status Quo haftet, total gegen den Strich gehen. Ich gebe dir ein Beispiel. Würde ich meinen Eltern erzählen, dass Lee mir untersagt hat, Bilder von den Kindern zu machen und sie über das Internet mit allen zu teilen oder das Baby zu fotografieren, wären sie empört! Für sie widerspricht diese Art Regel einfach den Gewohnheiten der üblichen zeitgenössischen Kultur. Selbst mit solchen winzigen Kleinigkeiten konfrontierte uns Lee. Es ist der Tod meines Eigenwillens.

F: Ich möchte noch einmal nachfragen: Was könnte den Geist so öffnen, dass jemand für einen Lehrer bereit ist?

MAY: Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Zeitpunkt bestimmen können, wann der Guru in Erscheinung tritt. Es heißt über den Weg: Wenn der Schüler bereit ist, wird sich der Guru zeigen. Die treibende Kraft dafür stammt aus einer so tiefen Quelle in uns, dass weder unser bewusster Wille, noch die Persönlichkeit  das in unser Leben bringen könnte. Natürlich könnten wir alle Arten von Yoga üben, wir könnten beten, wir könnten um einen Guru und um Hilfe bitten. Wir könnten die großen Traditionen studieren und an uns selbst arbeiten, um Selbstgewahrsein, Selbstehrlichkeit und Selbsterkenntnis zu erlangen. All das kann mit verschiedenen Yoga Traditionen erreicht werden, wobei Yoga hier für die Rückbindung an das Göttliche steht.

F: Ich würde das gern noch etwas genauer wissen. Wie könnte Interesse an einem Guru entstehen? Was könnte Neugier wecken statt Feindseligkeit?

MAY: Es nützt der Sache derer, die im Westen leben und einen Guru haben nicht gerade, dass ausgerechnet jetzt viele Guru-Traditionen wegen Skandalen und Missbrauchvorkommnissen angegriffen werden! Das geht jeden Menschen des Weges etwas an. Wir können nicht den Kopf in den Sand stecken und so tun, als ob es das nicht gibt. Hier in den Staaten passierte es mit Lehrern wie dem Sakyong und vielen anderen. Diese Vorkommnisse machen es schwierig, mit Menschen so über einen Guru zu sprechen, dass es ihnen einen Zugang ermöglicht.

RSR: Durch logische Erklärungen wird man keinen Zugang zu einem Guru vermitteln. Es kann geschehen, weil jemand, der dich kennt, vielleicht neugierig über dich wird und sich fragt, was mit deinem Leben oder mit dir los ist. Er wundert sich vielleicht, wie du mit den Dingen umgehst und fragt sich: „Was passiert da in ihrem Leben?”

F: Die Schüler zu erleben…

RSR: Es gibt eine wunderbare Geschichte über den heiligen Franz von Assisi. Einige Menschen begegneten ihm und als sie ihn besser kennen lernten, waren sie tief beeindruckt von seiner Güte, seiner Freundlichkeit und seiner Großzügigkeit. Einige von ihnen meinten: „Jesus muss ein großer Meister gewesen sein, wenn schon sein Diener Franz so gut ist.“
Es gibt noch eine ähnliche Geschichte: Ein junger Mann sieht, wie ein Zen Mönch die Straße hinunter geht. Der Mönch war einer der ersten großen Roshis, die aus Japan in die Vereinigten Staaten kamen. Und der Mann beobachtete diesen Mönch jeden Tag. Allein die Art und Weise, wie sich der Mönch bewegte, machte ihn so neugierig, dass er schließlich zu dem Mönch hinging und ihn fragte: „Du gehst ja wie… ich habe noch nie jemanden so gehen sehen wie dich. Wer bist du – was ist los mit dir?“

Sicherlich gibt es einige Menschen, die nach Antworten und Weisheit suchen,  die wirklich authentische Fragen stellen und eine echte Dringlichkeit spüren. Und das ist sicher ein weiterer Weg, wie sich Menschen für den Guru öffnen. Aber es passiert häufig, dass Menschen eine positivere Einstellung zu einem Guru bekommen, wenn sie seine Schüler erlebt haben. Lee sagte gern: „Schau dir die Schüler an, wenn du die Wahrheit über einen Guru wissen willst.“

F: Das ist ein wichtiger Punkt.

RSR: Als ich Lee das erste Mal traf, hatte ich bereits eine Weile mit verschiedenen anderen spirituellen Lehrern gearbeitet. Mein Mann Jere reagierte auf die Zusammenkünfte mit ihnen immer sehr zurückhaltend. Aber als Lee mich fand, wurde Jere immer offener für diese Beziehung. Er wurde neugierig, weil er eine Veränderung an meiner Art zu sein bemerkte. Mein Weg und meine Arbeit mit Lee bewirkten kein großes Drama, sondern gaben meinem Leben eher mehr Tiefe und das überzeugte meinen Mann davon, dass da wirklich etwas passierte. Später fing Jere an, es für sich selbst zu erforschen. Es war behutsam, es war tief, es war sanft. Alle meine großen Ausbrüche von: „Oh, mein Guru ist so und so…“ – beeindruckten Jere überhaupt nicht. Was ihn beeindruckte, war meine Güte, meine Aufmerksamkeit und Einfachheit und dass ich die Dinge anders als bisher machte.

MAY: Ich denke, das ist sehr wichtig, vielleicht einer der grundlegendsten Punkte: Wenn man mit einem Guru ist, fähig zu sein, die Lehre des Gurus zu verkörpern und ein Beispiel für sie zu sein. Arnaud Desjardins empfing eine wunderbare Lehre von seinem Guru über die Würde und den Adel, die dem Wesen innewohnen. Ein wahrer Guru wird dir helfen, diese wesensimmanente Würde und diesen wesensimmanenten Adel, die bereits in dir sind, zu kultivieren. Es ist deine wahre Natur, aber sie muss kultiviert und zum Blühen gebracht werden wie ein Garten.

F: Viele meiner Fragen erübrigen sich gerade. Eine Frage habe ich noch, ich möchte wissen, wie es euch nach dem Tod des Meisters erging. Wie geht es euch damit, dass ihr so lange mit Lee zusammengelebt habt und er dann den Körper verlassen hat? Ich selbst kann ihn so stark fühlen, wenn ich hier mit euch bin. Ich bin berührt von Lees Gegenwart hier. Ich möchte euch beide fragen, was die ersten drei Worte sind, die euch kommen, wenn ihr an Lee denkt.

RSR: Güte, Großzügigkeit und Mitgefühl. Das waren im Wesentlichen die Samen von Lees Lehre und ich sah sie in ihm immer und immer wieder. Diese Worte sind wie ein Mantra.

MAY: Schönheit, Präsenz, Göttlichkeit. Lees Wesen war wunderschön.

F: Könnt ihr den Kern seiner Lehre benennen? Was manifestierte sich durch ihn?

MAY: Lee liebte Gott sehr. Seine Übertragung und auch seine Lehre sind im Grunde theistisch, auch wenn er ganz klar ein Nondualist war und darauf bestand, dass die Liebe zu Gott auf der Realisation des Einsseins beruht. Aus diesem Einssein erblüht diese wunderschöne Beziehung mit der persönlichen Gottheit. Es ist zugleich persönlich und unpersönlich, daher auch zugleich dual und nicht-dual.

Vor allem die Schönheit seiner Lehre führte mich zu ihm, denn ich wünschte mir diese persönliche Beziehung zum Göttlichen und die vermittelte er. Die außerordentliche Präsenz von Lees Wesen wirkte wie ein Magnet und ich wollte diese direkte Beziehung zum Göttlichen. Ich würde sagen, dass das der Kern seiner Lehre ist. Seine Gedichte an seinen Meister Yogi Ramsuratkumar handeln nur von dieser direkten Beziehung zum Göttlichen durch die Form des Meisters.

F: Das ist ganz eindeutig der Bhakti-Weg, der nicht besser als ein anderer Pfad ist.

MAY: Es ist der Bhakti-Weg. Eines der Missverständnisse über den Bhakti-Weg besteht in der Annahme, dass er ganz und gar dual sei. Aber es ist nicht bloß Dualität. Wahre Bhakti, die persönliche Dimension von Gott, erfährt man nur auf der Grundlage von Nicht-Dualität. Der persönliche Geliebte ist eine Blüte der Einheit.

Jemand erzählte mir von einem buddhistischen Buch mit dem Titel: „Es gibt keinen Gott und er ist immer bei dir.“ Genau so ist es, weil wir Gott nie fassen können. Das ist Lees Lehre, oder wie die Baul es ausdrücken: Das Göttliche ist der unbekannte Vogel. Du kannst ihn nicht im Käfig deines Herzens einsperren, so sehr du das auch versuchst. Vielleicht lässt er sich für einen Moment auf dir nieder und du wirst von dieser Berührung verwandelt und verzaubert… aber dann ist er wieder weg. Wir können das nicht machen, es geht weit über uns hinaus.

Eines von Lees wichtigsten Büchern heißt: The Only Grace is Loving God (Gott zu lieben, ist die einzige Gnade). Das ist eine von Lees ursprünglichen Aussagen. Er sagte oft, dass es nichts Neues gibt unter der Sonne. Er meinte damit, dass in all den verschiedenen Aussagen von Kosmologie, Philosophie und Theologie nichts Neues enthalten ist. Es gibt Einssein und Einheit, Nichtdualität (Advaita) und Dualität (Dvaita). Seit Tausenden von Jahren haben die Menschen darüber diskutiert und gestritten oder es gelebt! Aber Lees Aussage: The Only Grace is Loving God ist ein einzigartiger Zugang zu all dem. Du kannst es nicht verstehen, es ist nicht rationaler Natur. Du liest einfach das Buch und auf eine gewisse Weise wird es dir etwas über die flüchtige Natur des Göttlichen, das ist und das nicht ist, vermitteln.

F: Was bedeutet der Bhakti Weg für dich, Regina?

RSR: Ich glaube ich bin schon als Bhakti-Anhängerin auf die Welt gekommen. Das gehört einfach zu mir. Schon als Kind verspürte ich eine ausgelassene Freude am Leben. Es fühlte sich immer so an, als ob ich einfach nicht genug bekommen konnte. Ich sprang sehr viel herum, sprang aus reiner Freude. Ich war total in Kontakt mit der überschäumenden Lebenskraft in mir. Später, als ich mich mit den verschiedenen spirituellen Traditionen beschäftigte, konnte ich mich mit vielen Einzelheiten verbinden. Ich liebte die Linearität, die Hierarchien und die Unterscheidungen der buddhistischen Tradition. Das war wie: „Oh, das ist super, jetzt befinde ich mich auf Stufe sieben.“ Aber das ist nicht meine Art. Es ist eher meine Art, die Arme zum Nachthimmel empor zu werfen und die reale Welt anzubeten, die Schöpfung zu verehren und dabei in Ehrfurcht und Demut auf die Knie zu fallen.

Ich bin am Meer groß geworden. Jede Woche, manchmal jeden Tag, gingen wir zur Küste hinunter. Das war überfließende Freude, das war Unermesslichkeit, das ging über alles…und bis auf den heutigen Tag ist es eine reine Feier des Göttlichen für mich, wenn ich wieder am Meer bin. Bhakti ist für mich die Lebenskraft oder „Liebeskraft“, die sich ausdrücken möchte. Sie umfasst einfach alles.

F: Wunderschön. Ich fühle mich auch sehr mit dem Meer verbunden. Was für ein Lehrer das Meer ist, ich erlebe es wie eine Mutter.

RSR: Eine Lehre ohne Worte. Eine Mutter ohne Worte. Du hast uns über Stephen Jenkinson sprechen hören, der ein Buch über Altern und Sterben geschrieben hat. Einer seiner Lehrer, Martin Precthel, sprach mit ihm über den Trauerprozess und Martin schreibt darüber in seinem Buch, The Smell of Rain on Dust (Der Geruch von Regen auf dem Staub)Er empfiehlt, wenn du wirklich trauern möchtest, dann nimm einen guten Freund mit ans Meer. Verbringt dort vielleicht drei Tage, wenn es so lange braucht. Dein Freund bleibt bei dir, aber lässt genug Raum für dich. Er hat ein Auge auf dich und kümmert sich um deine Sicherheit. Du sitzt oder stehst am Meer und entleerst all deine Trauer ins Meer. Du sprichst alles aus, du machst, was immer du willst, und erlaubst dem Meer einfach für dich da zu sein. Dein Freund muss versprechen, dass er Touristen von dir fernhält, die sich über dein Verhalten wundern könnten. Und er muss dich schützen, falls du dich ins Meer stürzen und dich umbringen willst. Für mich ist das ein fantastisches Bild. Es ist Gebet und pure Trauer. Du musst dich etwas hingeben, das größer ist als du, um die Unermesslichkeit des Herzens auszuhalten. Das Herz empfindet soviel Liebe und soviel Schmerz. Wir Menschen haben das Meer und den Himmel dafür. Wir haben auch die Wüstenlandschaft – aber für mich sind es der Himmel und das Meer. Die sind ganz besonders grenzenlos.

MAY: Was du sagst, erinnert mich an deine Frage, wie man diesem Sterbeprozess näherkommen kann, in dem wir uns seit unserer Geburt befinden. Etwas stirbt immer. Dieser Moment stirbt, damit der nächste Moment geboren werden kann. Und die Beziehung zum Guru fühlt sich durch das Auflösen der Schichten, der Pufferzonen und Prägungen wie der Tod an. Es zwingt uns, uns zu etwas Größerem hin zu bewegen, weil da immer wieder Trauer auf dem Weg entsteht. Es ist natürlich und wichtig zu trauern, es gehört zu unserem Menschsein und es ist ganz besonders wichtig, dieses Menschsein auf dem Weg nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die Rig Veda rät uns, uns auf die Natur des Himmels zu besinnen, um die wahre Natur unseres eigenen Geistes zu verstehen. Natürlich ziehen Wolken vorüber und Stürme kommen und gehen, es fällt Regen, aber hinter und jenseits von allem bleibt immer die unglaubliche, unberührte und endlose Ausdehnung des Himmels.

RSR: Eins unserer Lieblingslieder aus der Baul Tradition lautet: „Im Spiegel des Himmels sehe ich meine Seele.“

MAY: Wenn wir uns auf die Natur besinnen – auf das Meer, das sich beständig wandelt oder auf die Rhythmen von Tag-und Nacht oder die Jahreszeiten – wenn wir uns auf diese Weise auf die Natur besinnen, sehen wir, dass genau das auch im Kosmos geschieht. Die Astrophysik zeigt uns, dass das Gleiche auf der Ebene der Galaxie passiert, dass sich auch dort Geburt und Tod vollziehen. Das kann uns auf unserem Weg darin bestärken, Desillusion und Verzweiflung, denen wir mit Sicherheit begegnen werden, ins Auge zu sehen. Desillusionierung bedeutet, dass uns eine Illusion genommen wird, und wenn das passiert, glauben wir zu sterben.

F: Eine letzte Frage habe ich noch. Ich möchte gern wissen, was sich für euch und die Gemeinschaft verändert hat, oder immer noch verändert, seitdem Lee den Körper verlassen hat. Was unterscheidet den „Lehrer im Körper” vom „Lehrer, der seinen Körper verlassen hat”? Ihr könnt auch teilen, wie es euch damit erging.

RSR: Was mich seitdem begleitet und sich ständig wandelt, ist der Tod der inneren Mama und des inneren Papas und die Art, wie ich Lee zu dieser inneren Mama und diesem inneren Papa gemacht habe. Er sollte meine Fragen beantworten und mir auf dem Weg helfen. Er sollte mich irgendwie retten. Ich erinnere mich an Gedanken, die ich während eines Fluges mit ihm hatte. „Oh, wir werden sicher nicht abstürzen, Lee ist ja bei uns.“ Das ist nicht unbedingt richtig… aber das zeigt, wie die Psyche in ihrer Angst den Lehrer genommen und ihn dafür benutzt hat, sie von der Angst zu befreien. Und im tiefsten, letztendlichen Verständnis stimmt das tatsächlich, aber nicht so, wie ich es für mich auslegte, um meine Wehwehchen zu heilen, als wäre ich ein Kind.

Für mich ist es eine ständige Erinnerung, dass ein innerer Elternteil gegangen ist. Gut, möglicherweise nicht vollständig verschwunden, aber er verblasst. Und jetzt, da Lee seinen Körper verlassen hat, gibt es für mich die Möglichkeit zu sehen: Was war die Essenz meiner Beziehung zu ihm? Er ist nicht mehr die äußere Repräsentanz meiner inneren Eltern. Das ist es, was mich im Moment beschäftigt. Es geht um das Erwachsenwerden, über das wir gesprochen haben. Ich merke immer noch, wie sich der gleiche Vorgang mit anderen Menschen wiederholt, wie ich bei anderen nach Anerkennung suche und hoffe, dass sie meine Kratzer und Schrammen versorgen. Jetzt muss ich mich beständig an die Essenz dessen erinnern, was mir an Wissen darüber, wer ich bin, geschenkt wurde und dieses Wissen dann in jeder Lebenslage vertreten.
Das größte Geschenk für mich ist, dass er seit seinem Tod nicht mehr so sehr an einen Ort gebunden ist. Er bewohnt den ganzen Raum, so dass ich größeren Zugang zu ihm habe. Das Geschenk ist, dass ich ihn nicht nur in der Schöpfung erlebe, sondern auch in anderen Menschen. Seitdem er nicht mehr da ist und meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, erlebe ich ihn mehr und mehr in den anderen um mich herum.

Was die Gemeinschaft angeht, so haben viele Lehrer sinngemäß gesagt: „Arbeitet mit Fleiß an eurer Erleuchtung.“ Das sollen Buddhas letzte Worte gewesen sein.

In der Sangha befinden wir uns also in einem Prozess des Hinterfragens. Wir müssen miteinander arbeiten und werden uns der eigenen Begrenzungen und Wahrheiten bewusst. Wir müssen einander zuhören. Ich denke, Lees wahres Erbe bestand darin, dass er nicht einen einzelnen Nachfolger hinterließ. Er hinterließ uns „erleuchtete Gemeinschaft“. Das ist der Koan: Nicht Erleuchtung eines jeden einzelnen, sondern erleuchtete Gemeinschaft. Was heißt das überhaupt? Wir befinden uns jetzt gerade mal im zehnten Jahr inmitten dieses Koans. Und es ist ein schwieriges Ringen, aber ebenso notwendig, überaus belebend und voller Gnade. Es gibt keine leichten Antworten, nur harte Arbeit und auch eine Menge guter Erfahrungen. Und viel Freude.

F: Vermisst du ihn in seinem Körper?

RSR: Ja, sehr. Lee schrieb ein Gedicht an seinen Meister und diese Zeilen kann ich kaum aussprechen, ohne dass sich mir der Hals zuschnürt und mir die Tränen kommen. Er schrieb: „Magst du auch überall sein…vermissen wir doch die unersetzlichen Freuden deiner körperlichen Gegenwart. Und jetzt ist dein Körper nicht mehr da. Wir vermissen dein Lachen, wir vermissen deine Berührung.”

MAY: Im Sommer bevor Lee starb, sagte er: „Ich bin sicher, dass mein Tod der größte Dienst ist, den ich meinen Schülern erweise.“ Er sagte mit anderen Worten: Mein Sterben wird das Nützlichste sein, was ich je für euch getan habe. Das ist eine ungeheuer bedeutsame Aussage, die viele verschiedene Facetten hat. Regina sprach vom inneren Erwachsenen. Ich stimme dem zu, aber ich würde es  noch ein wenig anders darstellen. In der großen Arkana des Tarot gibt es die Karte des Hierophanten. Er ist der Archetyp der spirituellen Autorität und steht mit den Schlüsseln in der Hand da. Er ist der Lehrer, derjenige, der dich in die nächste Stufe der Realität einweiht und er stellt sich dir gleichzeitig auch in den Weg.
Natürlich gab und gibt es für mich einen ungeheuer intensiven Trauerprozess, der bereits vor Lees Tod begann und sich immer weiter und weiter vertiefte und bis heute andauert. Die Trauer wird mich immer begleiten, sie gehört zu mir. Lee war für über 20 Jahre der Mittelpunkt meines Lebens und ich habe in seiner persönlichen Gegenwart gelebt. Ja, ich werde seine körperliche Form immer vermissen.

Als Lee starb, sagte sein Freund Arnaud Desjardins zu uns: „Ich bin sicher, dass jetzt der schönste Teil eurer Beziehung mit Lee beginnt.“ Eine Möglichkeit, das zu verstehen, besteht in der Erkenntnis, dass wir früher oder später unsere Projektionen zurücknehmen und die Verantwortung für unser eigenes Sein übernehmen müssen. Lee wollte, dass wir den Weg Seite an Seite mit ihm gehen und nicht an seinem Rockzipfel hängen und ihn zurückhalten mit Gedanken wie: „Kümmere dich um mich! Bring meine Angelegenheiten für mich in Ordnung! Rette mich!“

Lee wollte uns auf Augenhöhe. Er betrachtete die beiden Pole in der Lehrer-Schüler-Beziehung als gleichwertig. Nicht so, dass einer als spirituelle Autorität höher steht und alle Macht besitzt. Das ist ein falsches Konzept und wenn ein Lehrer das so sieht, dann könnte es da Probleme geben, weil wir gemeinsam in einem Boot sitzen. Das bedeutet nicht, dass wir dem Guru nicht Respekt und Demut entgegenbringen angesichts der Tatsache, dass er den Weg bereits weiter gegangen ist als wir und uns demzufolge lehrt, führt und initiiert. Aber auf der Ebene des Seins sind wir gleich.

Das ist ein Paradox. Was haben wir gestern im Dharma Talk gehört? Das Paradox ist ein Geschenk des Lebens. Aber haben wir die Größe, um Dualität und Nicht-Dualität gleichzeitig zu fassen? Lee, der als Person gestorben ist, und Lee, der in die Weite wiedergeboren wurde, in der der Guru zu Allem wird – das wirft den Schüler in ein ganz neues Sadhana. Gleich nachdem Lee starb, in den ersten Monaten, hatte ich das Gefühl, dass ich ganz neu anfing. Ich begann ein Sadhana, das für mich völlig neu war, obwohl ich Lee Jahrzehnte lang nah war. Seit meinem neunzehnten Lebensjahr bin ich auf der spirituellen Suche. Schon vor der Zeit mit Lee praktizierte ich einen spirituellen Weg. Aber jetzt ist Lee nicht mehr in seinem Körper. Er ist jetzt Alles, er ist nicht mehr Lee Lozowick – und doch gibt es diese Kontinuität, diese große Liebe, dieses Wiedererkennen auf einer viel tieferen Ebene. Und er spricht zu mir durch ganz verschiedene Erscheinungen. Das können Freunde sein, die Natur, das Wetter oder das nächste Buch, das gerade meine Aufmerksamkeit auf sich zieht und das ich lesen will. Irgendeine kleine Textstelle in diesem Buch wird dann wieder etwas zu meinem Sadhana beitragen. Irgendwie gab Lee es mir. Weißt du, was ich meine? Das Buch tauchte in meiner Welt auf und er lenkte meine Aufmerksamkeit darauf. So erlebe ich, wie der Guru zu mir spricht, weil er nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sagen kann: „Hier, lies „Inneres Yoga“ vom Baul Meister Sri Anirva.“ Das ist wirklich eines meiner absoluten Lieblingsbücher und das letzte Buch, das mir Lee vor seinem Tod gab.

Jetzt führt er mich auf vielen anderen Wegen. Ich brauche immer größere Klarheit, Feinfühligkeit und Stärke, um dieses Innenleben mit seinen inneren Sensoren zu kultivieren. Diese ,Sinnesorgane der Seele‘ können ihn erspüren, seinen ,Geruch‘ und seine Führung wieder erkennen.

Ein großer Teil der Arbeit besteht jetzt darin, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Das verändert das Sadhana. In der Tradition der Sufis ist es anders. Wenn dein Sheikh stirbt, dann bekommst du einen anderen. Das Gleiche gilt für den Buddhismus: Wenn dein Lama stirbt, bekommst du einen anderen Lama, der dich führt. So läuft es in unserer Tradition aber nicht. Wir bekommen keinen nächsten Guru oder Führer. Wir haben unsere Übertragungslinie; wir arbeiten mit dem lebendigen, göttlichen Einfluss und der segnenden Kraft unserer Linie, die momentan nicht in körperlicher Form anwesend ist. Bis sein Meister starb, bestand Lee unnachgiebig darauf, dass ein lebender Guru nötig ist, um auf dem Weg fortschreiten zu können. Hier gibt es ein weiteres Paradox: Es stimmt, wenn es für dich so passiert. Aber wenn der lebende Guru körperlich stirbt, verwandelt er sich – du sagtest ja, dass du ihn hier spüren kannst, er ist lebendig! Aber, was nötig ist, um die Übermittlung des Lehrers von außerhalb seines Körpers zu erkennen und zu empfangen, das ist ein anderes Sadhana. Die Beziehung geht weiter. Auch die innere Arbeit geschieht mit einer anderen Intensität, alles passiert innerlicher. Jetzt beschäftigen wir uns nicht mehr mit den verrückten Projekten, in die Lee uns hinein warf. Das reichte von Schreibaufträgen oder Bands und Musik, bis zur Kindererziehung und zum Bau und Betreiben von Ashrams oder Verlagshäusern und zu Weltreisen mit ihm – es waren zum Teil irrwitzige Dinge, die wir da machten.

Für mich lodert das alchemistische Feuer des Sadhana jetzt immer noch hier drin. [Sie berührt ihre Brust.]

F: Gibt es Leute in der Gemeinschaft, die erst kamen, nachdem Lee seinen Körper verlassen hatte?

MAY: Nicht sehr viele.

F: Ich denke, dass das einen großen Unterschied ausmacht, ob du mit einem lebenden Lehrer bist oder mit einem Lehrer, der seinen Körper verlassen hat. Was ich soweit sehen konnte bei Schülern von verstorbenen Lehrern, ist, dass etwas fehlt, weil sie niemand mehr konfrontiert. Es ist dir überlassen, was du meinst, was der Lehrer dir sagt.

MAY: Das stimmt. Wir konfrontieren uns nicht so viel, aber wir geben uns gegenseitig Feedback…

F: …die Sangha ist nun Lehrer.

MAY: Wir nehmen nicht nur Zuflucht zum Guru. Wir nehmen Zuflucht zu Guru, Dharma und Sangha, den drei Juwelen. Das ist äußerst wichtig – das meine ich, wenn ich davon spreche, sich den Weg zu Eigen zu machen. Man nimmt Zuflucht zu allen Aspekten des Weges. Ich denke, die meisten von uns als spirituelle Gemeinschaft, nehmen Zuflucht zur Übertragungslinie unseres Gurus.

Ich möchte dabei nur für mich sprechen, und nicht für andere. Wenn wir uns den Weg zu Eigen machen und unser Sadhana lebendig erhalten, dann gibt es ein Feuer in uns. Dann suchen wir auf vielfältige Weise im Dharma, was auch Studium und weitere Vertiefung des Verstehens bedeutet. Glauben wir denn, wir könnten einmal in unserem Leben eine Schrift wie die Bhagavad Gita lesen und meinen, wir hätten die Lehren Krishnas verstanden? Er gibt in diesem Buch eine Einführung in den Yoga von allem! Das ist nur ein Beispiel. Und außerdem nehmen wir Zuflucht zur Sangha

F: Ich glaube diese drei Aspekte sind sehr wichtig. Das unterscheidet uns komplett von den Menschen, die meinen, sie bräuchten keinen Lehrer, weil der Lehrer in ihnen ist. Das ist weit entfernt von dem, was wir leben.

MAY: Ich habe einen Guru, und er ist äußerst lebendig. Er ist nur nicht in seinem physischen Körper.